
Ob hell oder dunkel,
Der Horizont ist weit weg.
Wellen hin und her.
Eines Tages sagte der Beamte Jiku zu Meister Chosa Keishin (1):
– Wenn ein Regenwurm in zwei Teile zerschnitten wird, bewegen sich beide Teile. Ich frage mich: In welchen dieser Teile befindet sich die Buddha Natur des Wurms?
Meister Chosa Keishin erwiderte:
– Täusche dich nicht.
Der Beamte fragte: Wie lässt sich erklären, dass sich beide Teile fortbewegen?
Meister Chosa Keishin entgegnete:
– Die Elemente Wind und Feuer haben sich nur noch nicht aufgelöst.
Der Beamte Kiku wusste darauf keine Antwort. Da rief der Meister mit lauter Stimme nach ihm, und er antwortete:
– Ja?
Meister Chosa Keishin sagte:
– Diese natürliche Reaktion ist dein ursprüngliches Leben nicht wahr?
Der Beamte Jiku erwiderte:
– Selbst wenn wir jetzt das Fragen und Antworten schließen würden, gäbe es keinen zweiten Meister für mich.
Meister Chosa Keishin sagte:
– Ich kann dich heute nicht kaiserlich nennen.
Der Beamte Kiku sagte:
– Wenn das deine Meinung ist, werde ich aller Fragen und Antworten bei dir aufgeben. Denkst du denn, dass ich nicht mein eigener Meister bin?
– Meister Chosa Keishin erwiderte: Ob du mir antwortest oder nicht, ist nicht wichtig. Sich aber Sorgen darüber zu machen, ob man antwortet oder nicht, ist seit ewigen Zeiten die Hauptursache von Leben und Tod.
Dann verfasste er ein Gedicht:
Die Ursache dessen, dass die Übenden des Buddha-Weges die Wahrheit nicht erkennen,
liegt darin, dass sie nur ihren unterscheidenden Geist erkennen,
Doch das war seit ewigen Zeiten die Ursache von Leben und Tod,
Die Törichten aber glauben, er sei ihre ursprüngliche Natur.
Kommentar
Alle Bemühungen in der Praxis des Zen sind auf diesen einen Punkt gerichtet der jenseits der Unterscheidungen ist. Dort wo sich jeder Widerspruch auflöst, sogar die mysteriösesten Rätseln, wo aus der Leerheit die Weisheit entspringt. Es wird behauptet Albert Einstein hätte Mal gesagt, dass die Dunkelheit nicht existiere, weil sie eigentlich die Abwesenheit von Licht sei. Aus dieser Behauptung wurden viele weitere Ableitungen gemacht, doch irgendwie habe ich es mir damit schon immer schwer gemacht. Zunächst schon mal weil ich absoluten Wahrheiten gegenüber gelernt habe skeptisch zu sein aber auch weil ich mich schon immer gefragt habe, was wohl mit dem Licht wäre, gäbe es die Dunkelheit nicht. Angenommen es gäbe keine Dunkelheit und nur noch das Licht, würden wir dann noch wahrnehmen können was das Licht ist? Würden wir es dann noch messen können? Gäbe es dann überhaupt noch so etwas was als Licht bezeichnet werden könnte? Also vielleicht wäre es genauso angemessen zu sagen, dass es das Licht gibt weil es die Dunkelheit gibt. Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Wie dem auch sei, Recht oder Unrecht, die Frage allein gibt Grund für Spekulation, für Zweifel, für Diskussion, unter Umständen vielleicht auch für Streit. Wären wir spätestens an dieser Stelle nicht schon wieder bei der Dunkelheit, der Umneblung zumindest des Geistes angelangt? Hätten wir uns da nicht schon vom wahren Licht distanziert, der sowohl im Äußeren als auch im Inneren strahlt, vom Licht der bedingungslosen Akzeptanz, vom Licht des Gleichgewichts? Ich entdecke die fließenden Grenzen, die Grautöne und das Licht genauso in der Dunkelheit sein kann wie in der Dunkelheit das Licht. Also schließe ich nichts aus sondern nehme sowohl die Dunkelheit als auch das Licht als unterschiedliche Aspekte dieses Augenblicks war. Nichts Fixes sondern verschiedene Phänomene, die sich von Augenblick zu Augenblick in Folge des allgegenwärtigen Prozesses wechselseitiger Abhängigkeit konstant verändern.
Ähnlich weist der Meister die Frage seines Schülers zurück und lehnt es ab darüber zu spekulieren, in welcher Hälfte eines geteilten Wurmes sich die Buddha Natur befinde. Als Jiku auf die Beantwortung der Frage besteht, antwortet Meister Chosa er solle verstehen, dass die physischen Elemente Wind und Feuer sich noch nicht aufgelöst hätten. Jiku scheint dies nicht zu verstehen und um seinem Schüler doch noch zu helfen, ruft der Meister Jikus Name laut. Dieser Antwortet spontan: „Ja?“. Jiku glaubt etwas begriffen zu haben und stimmt der Aussage des Meisters zu, dass unser natürliches Verhalten unser „ursprüngliches“ Leben sei. Dies tut er mit den Worten: „Selbst wenn wir jetzt das Fragen und Antworten einstellen würden, gäbe es keinen zweiten Meister für mich“. Doch ist in seiner Aussage nicht Unsicherheit zu erkennen? Und genau diese Unsicherheit ist Meister Chosa nach, der Grund für Leben und Tod. Auch wenn es Jiku nicht gefällt, auch wenn er es gerne anders haben wollen würde, seine Unsicherheit ist zu erkennen und damit auch der unterscheidende und ausschließende Geist. Ein Geist der identisch ist mit dem Geist der Sehnsucht und der Unzufriedenheit, welcher verursacht, dass wir Dingen hinterher jagen oder den Dingen davon rennen. Der rastlose ewighungrige Geist der es unmöglich macht bis zu uns selbst vorzudringen. Bis zu dem was unsere wahre Natur ist.
Manche Menschen glauben, dass es nicht möglich sei frei von Unterscheidungen zu leben und deshalb unser wahrer Geist eher eine Utopie ist. Dass frei von Unterscheidungen und Kategorien zu leben hieße schwach, ängstlich oder zumindest ziellos zu sein. Es reiche nicht um in einer Welt zu überleben in der die Medienwirklichkeit nicht identisch ist mit der unmittelbaren Wirklichkeit. Es genüge nicht um jenen die Stirn zu bieten, die ohne Skrupeln konsequent die Tatsache ausnutzen, dass im Bezug auf die Medienpräsenz eine schlechte Nachricht besser ist als gar nicht in den Medien zu sein. Jenen, denen jedes Mittel recht ist und sogar die Würde verletzen wenn es sein muss. Es verlange Macht und Mut dazu um die Pressefreiheit, die Demokratie und die Freiheit bewahren zu wollen. Doch wer das sagt hat noch nicht verstanden, dass es unsere Pflicht ist den Totalitarismus schon im Aufkeimen zu entlarven, die Güte ist nämlich nicht echt wenn sie nicht frei und spontan ist. Wie könnte er/sie wissen was es wirklich heißt frei von Unterscheidungen zu sein?
Was sind wir, wenn wir uns nicht über Dinge, die außerhalb von uns sind identifizieren? Was sind wir jenseits von Dingen wie: Religion, unserem Alter, unserem Geschlecht, unserem Besitz, unserem Beruf, unserer Familie oder unserer Nationalität? Was sind wir, wenn wir aufgehört haben den Dingen davon- oder hinterher zu rennen, sodass der Einatmung nur noch die Ausatmung folgt? Was sind wir wenn wir bis zum Ursprung vorgedrungen sind? Der Anbeginn aller Zeiten ist gleichzeitig das Ende der Zeit. Der Punkt wo Alles beginnt wo aber auch Alles aufhört. Dort wo das Leiden seinen Ursprung hat, wo die Gier, die Wut und die Ignoranz beginnen, wo sie aber auch aufhören. Dort wo der Sommer, der Herbst, der Winter und der Frühling sowohl der Winter als auch der Frühling sind.
(1) Koan nr. 20 aus: Die Schatzkammer der wahren buddhistischen Weisheit -Dogen Zenji´s Sammlung von 301 Koan
