Eines Tages sagte Meister Ungan zu einer Versammlung: Es gibt in einer Familie ein Kind, das auf jede Frage eine erklärende Antwort geben kann.
Meister Tozan fragte: Gibt es Bücher in jenem Hause?
Meister Ungan antwortete: Es gibt keine Bücher dort, nicht einmal ein einziges Schriftzeichen.
Meister Tozan sagte: Wie ist es möglich, dass das Kind so viel Wissen erlangt hat?
Meister Ungan erwiderte: Es hat Tag und Nacht nicht geschlafen.
Meister Tozan fragte: Falls wir es nach der Wahrheit fragen, kann es darauf antworten?
Meister Ungan sagte: Selbst wenn es wüsste, wie es die Wahrheit ausdrücken könnte, würde es sie niemals aussprechen.
Kommentar
Unser natürlicher Zustand wird manchmal mit dem eines Kindes verglichen. Beide sind durch Spontaneität, Intuition sowie durch Einfachheit des Verhaltens gekennzeichnet. Es gibt nichts, was in jenem kindlichen Zustand nicht geäußert werden könnte. Diese Verfassung hat nichts mit Bücherwissen zu tun.
Meister Ungan erklärte, es gebe kein einziges Schriftzeichen im Hause des Kindes. Wie mag es dann seine Weisheit erworben haben? Das Kind habe Tag und Nacht nicht geschlafen, sagte Meister Ungan, womit er das fleißige Üben von Zazen ansprach.
Obgleich das Kind sich zu allem äußern kann, sagt es nichts über die Wahrheit. Der Grund dafür liegt darin, dass alles Sagbare die Wahrheit nicht erreichen würde und irreführend wäre. Das Kind drückt die Wahrheit eben durch sein Dasein aus, weil es nie von ihr getrennt ist.
