DREIUNDVIERZIG

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Die Form ist die Leerheit und die Leerheit ist die Form. Und doch ist die Form die Form und die Leerheit die Leerheit. Eihei Dogen – Makahannya Haramitsu

Als Meister Kiso Chijo aus dem Kisu-Tempel auf dem Berg Ro gerade dabei war, Gras zu mähen, traf der Meister eines anderes Tempels ein. Da bemerkten sie beide in ihrer Nähe eine Schlange. Ohne zu zögern, zerteilte Meister Chijo sie mit der Sichel in zwei Teile.

Der Meister des anderen Tempels sagte:
– Dein Ruf ist mit seit langem bekannt, doch nun sehe ich, dass du nur ein Mönch mit groben Benehmen bist.
Meister Chijo entgegnete:
– Bin ich grob, oder bist du es?
Der andere Mönch fragte:
– Was meinst du mit „grob“?
Meister Chijo stieß die Sichel in den Erdboden, den Griff voran.
Der andere Meister sagte:
– Was ist „nicht grob“?
Meister Chijo tat so, als würde er eine Schlange töten.
Der andere Meister sagte:
– Vielleicht hast du Recht. Ich werde deinem Beispiel folgen.
Meister Chijo erwiderte:
– Ich werde dir erlauben, eine Zeit lang meinem Beispiel zu folgen. Aber verstehest du denn, warum ich die Schlange getötet habe?
Der andere Meister sagte nichts.

Kommentar
Eines der buddhistischen Gelübde lautet: „Töte nicht“. Meister Kiso Chijo wurde kritisiert, weil er in grober Weise gegen dieses Gelübde verstieß. Doch er stellte die Frage, welche Art Verhalten denn „grob“ sei. Und dann führte er ein grobes Benehmen vor, indem er die Sichel mit dem Griff voran in den Boden stieß. Das ist ziemlich unnatürlich und ohne eine nützliche Funktion, denn die Sichel wurde nicht für einen solchen Gebrauch gefertigt.
Als der andere Meister ihn bat, ein Verhalten vorzuführen, dass nicht grob wäre, simulierte Meister Chijo das Töten einer Schlange. Ein Gelübde gegen das Töten gibt es, doch in einigen Situationen kann es notwendig sein zu töten. Die Schlange stellte eine Bedrohung dar, also tötete Meister Chijo sie, ohne zu zögern.
Die buddhistische Einstellung zu den Gelübden unterscheidet sich somit von der Auffassung der Christen im Bezug auf die Zehn Gebote. Die Gebote sind nicht an eine spezielle Situation gebunden und müssen unabhängig von den konkreten Umständen befolgt werden. Die buddhistischen Gelübde hingegen sind eine Anleitung zum rechten Verhalten, und die Buddhisten befolgen sie keineswegs blindlings, denn rechtes Verhalten kann sich nur in einer konkreten Situation entfalten.

Moralisches Verhalten bedeutet nicht, ein abstraktes Konzept dessen zu erfüllen, was richtig ist, sondern einfach in der konkreten Situation „das Richtige zu tun“. Unter bestimmten Umständen kann dies bedeuten, dass wir ein Gelübde brechen. Dass heißt freilich nicht, dass ein Buddhist in Bezug auf das Einhalten der Gelübde lax sein soll.

Wenn der Körper/Geist durch die regelmäßige Praxis von Zazen ausgewogen und in seinem natürlichen Zustand ist, dann handeln wir in der konkreten Situation intuitiv und richtig. Die Gelübde wirken wie eine Landkarte des Terrains, sie sind aber nicht das Terrain selbst.

Aus: Die Schatzkammer der wahren buddhistischen Weisheit – Dogen Zenji´s Sammlung von 301 Koan. Kommentare von Gudo Wafu Nishijima Roshi, 2005, O.W. Barth Verlag.

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