Als Shakyamuni den Morgenstern erblickte, sagte er: “Gemeinsam mit der großen Erde und allen fühlenden Wesen vollende ich den Weg.“
Hintergrund
Shakyamuni Buddha entstammte dem Geschlecht der Suryavamsha in Indien. Im Alter von neunzehn Jahren verließ er um Mitternacht den Palast in Kapila, bestieg den Berg Dantiloka, schor sich das Haupt und entsagte der Welt. Dann begann er seine sechs Jahre dauernden asketisches Üben. Schließlich saß er auf den Diamantsitz, erlangte also tiefstes Samadhi, während Spinnennetze zwischen seinen Augenbrauen spannen und Elstern Nester auf seinem Kopf bauten. Weitere sechs Jahre lang durchdrang Schilf seinen Lotussitz.
Am 8. Dezember, im dreizehnten Jahr seiner Übungen, erlangte er im Morgengrauen das Erwachen. Die Worte „Gemeinsam mit der großen Erde und allen fühlenden Wesen vollende ich den Weg“ waren sein erstes Löwengebrüll. Danach predigte er den Dharma neunundvierzig Jahre lang, ohne seine Zuhörer auch nur einen Tag zu verlassen. Er besaß nur eine Robe und eine Schale und entbehrte doch nichts. Nach mehr als dreihundertsechzig Dharma-Unterweisungen übertrug er schließlich das Schatzauge des Wahren Gesetzes an Mahakashyapa, und von ihm aus wurde es bis in unsere Zeit übertragen. Diese Übertragung von Indien über China bis nach Japan ist die Grundlage der Übung des Wahren Dharma.
Alle Übungen Shakyamuni Buddhas sind Vorbilder für seine Nachfahren. Obwohl er die Zweiunddreißig Merkmale von Größe und achtzig besonderen Kennzeichen hatte, erschien er wie ein alter Mönch und unterschied sich nicht von gewöhnlichen Menschen. Seit seinem Erscheinen und durch alle Zeitalter der Lehre – das Zeitalter des Wahren Dharma, das des verfälschten Dharma und das des untergehenden Dharma – nahmen sich seine Anhänger ein Beispiel an ihm und standen, gingen, saßen und legten sich nieder, ohne Selbstsucht zu hegen. Weil es eine unmittelbare Übertragung von Buddha zu Buddha und Patriarch zu Patriarch gibt, geht der Dharma nicht unter. In den dreihundertsechzig Dharma-Unterweisungen in neunundvierzig Jahren sind die verschiedenen Geschichten, Parabeln, Metaphern und Erklärungen nie von Buddhas Erwachen abgewichen.
Teisho von Keizan Zenji
Das „Ich“, von dem Shakyamuni Buddha spricht, ist nicht Shakyamuni Buddha, doch Shakyamuni Buddha entsteht aus diesem „Ich“ gemeinsam mit der großen Erde und allen fühlenden Wesen. So wie bei einem Netz, das man anhebt, auch dessen Löcher mit angehoben werden, so wurden mit dem Erwachen Shakyamuni Buddhas auch die große Erde und alle fühlenden Wesen erleuchtet. Bringe das Erwachen nicht nur mit Shakyamuni Buddha in Verbindung, denn auch alle Buddhas der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wurden erleuchtet.
So zahllos Flüsse, Berge und Phänomene auch seien, sie alle sind in der klaren Sicht von Gautamas Auge enthalten. Auch wir befinden uns in der Pupille seines Auges, die auch die Pupille unseres Auges ist. Gautamas Auge wird zum Fleisch und zu den Knochen von jedermann. Von alters her bis heute gehören gewöhnliche Menschen zu Gautamas klarer Sicht. Gautama selbst ist unser aller Körper.
Wie kann man dann das Mark der Erleuchtung erklären? Ich frage die Mönche hier: Ist der Gautama mit allen Menschen erwacht? Wenn dem so ist, dann handelt es sich gar nicht um Gautamas Erwachen, dann können wir dies nicht als Mark der Erleuchtung ansehen.
Wenn wir wirklich das Prinzip des Erwachens erfassen wollen, dann müssen wir diesen Gedanken von Gautama und den gewöhnlichen Menschen aufgeben. Nur dann werden wir zügig die Bedeutung dieses wahren „Ichs“ erkennen. Dieses wahre „Ich“ betrifft die große Erde und alle fühlenden Wesen. Es unterscheidet sich von Gautama, dem alten Weisen. Untersuche und bedenke sorgsam dieses „Ich“, und kläre auch das „gemeinsam mit“ in seiner Aussage. Wenn wir nur das wahre „Ich“ klären, nicht jedoch das „gemeinsam mit“, können wir unser erkennendes Auge verlieren. Dieses wahre „Ich“ und das „gemeinsam mit“ sind weder gleich noch verschieden. Mönche, tatsächlich sind euere Haut, euer Fleisch, eure Knochen und im Besonderen euer Mark „gemeinsam mit“. Der „Herr des Hauses“ ist „Ich“. Es hat nichts mit Haut, Fleisch, Knochen und Mark zu tun, auch nichts mit den vier Elementen und den fünf Skandhas.
Wenn ihr wirklich den „Unsterblichen in der Einsiedelei“ verstehen wollt, dürft ihr ihn nicht von diesem Hautsack trennen. So schreiten wir gemeinsam mit der großen Erde und allen fühlenden Wesen voran. Verändern sich Frühling, Sommer, Herbst und Winter und im Lauf der Zeit auch Berge, Flüsse und die große Erde, dann sollten wir wissen dass dahinter nur Gautama steckt, der seine Augenbrauen hebt und mit den Augen zwinkert. All die Myriaden von Phänomenen sind nur eine Manifestation des Wahren Dharma. Ihr Wandel liegt jenseits von Abwerfen oder Nicht-Abwerfen. Fayan fragte: „Warum ist es wichtig abzuwerfen oder nicht abzuwerfen?“ Dizang erwiderte: „Was meinst du mit Myriaden von Phänomenen?“
Darum klärt in eurer endlosen und fortdauernden Übung Gautamas Erwache als euer eigenes. Ihr solltet diese Rätsel der Myriaden von Formen durchdringen, damit die Antwort aus eurem Herzen fließt, ohne dass ihr Worte vergangener oder gegenwärtiger Buddhas benötigt. Bitte zeigt euer Verständnis dieser Wahrheit bei der nächsten Dharma Unterweisung.
Dieser Bergpriester würde gern noch ein paar bescheidene Worte ergänzen. Seid ihr Mönche bereit, zuzuhören?
Vers
Ein schöner Ast wächst aus dem Pflaumenbaum,
zur gleichen Zeit auch Dornen.
Quelle: Denkoroku. Die Weitergabe des Lichtes / Keizan Jokin. Frankfurt, Angkor Verlag, 2008
