DIE ZEIT

Kommt er, fliegt er weg?

Sein Flug läßt keine Spuren.

Die Sonne geht auf.

Noch bevor der Wind die Äste berührt, noch bevor sich das Rascheln in Äste, Blätter und Baum verwandelt, noch bevor das Eis vollständig schmilzt und das Wasser den Berg hinunter fließt und wir noch nicht sagen können, ob es noch kalt oder schon warm, ob es schon hell oder noch dunkel ist, ob es feucht oder trocken ist, ob ich es bin oder die Dinge ausserhalb, findet die Zeit vor der Zeit statt. Wenn der Winter noch nicht ganz vergangen ist und gleichzeitig es noch nicht Frühling ist. Ich nenne es die Zeit des wahren Frühlings. Die Zeit in der das Äußere noch im Einklang mit dem Inneren und der Körper noch vollständig der Geist ist. Die Zeit in der das was gerade geschieht noch keine Gewissheit ist und deshalb eine Zeit des Staunens, der Zerbrechlichkeit, der Berührung, des Erfassens ist. Die Zeit des Erlebens. Die Zeit des Seins.

Nein, nicht immer haben wir geglaubt, dass der Wert eines Menschen von seinem Besitz, seinem Geschlecht, seiner Herkunft, seiner Bildung oder von seiner Gesinnung abhängt. Nicht immer war der Schein mehr als das Sein und die Worten wichtiger als die Taten. Nicht immer brauchte es ein ganzes Menschenleben, bis zum Antlitz des Todes etwa, um zu erkennen, dass wir so vielen sinnlosen Dingen nacheifern, so vielen Illusionen. Nein, nicht immer ist es so gewesen. Es gab auch eine Zeit in der uns bewusst war, dass das eigene Sehen und Hören, das eigene Riechen und Empfinden keine Grenzen kennen, einfach weil der Körper und das Bewusstsein nahtlos miteinander verbunden sind. Es war eine Zeit in der wir deshalb auf Vergleiche, auf Urteile und Schuldzuweisungen verzichteten, weil es keine Suche mehr gab. Weil wir wussten wer wir sind und dass schlicht alles was uns umgibt Teil von uns selbst ist. Eine Zeit, die keinen Namen hatte, weil es keine war. Die Vergangenheit war lediglich das bereits vergangene und die Zukunft war sowieso noch nicht da.

Heute, wenn wir vom wahren Frühling sprechen, bezeichnen wir ihn als das Hier und Jetzt. Wir müssen diese Bezeichnung verwenden, weil wir auf Symbole, Zeichen und Abstraktionen angewiesen sind. Wir müssen so tun als sei die Zeit in Fragmente eingeteilt, welche ähnlich wie ein Puzzle, erst zusammengelegt ein ganzheitliches Bild ergeben. Wir sollen das Erlebte verständlich reproduzieren und nennen es kommunizieren. Ich frage mich wo und wann? Wo ist uns die Einsicht abhanden gekommen, wann haben wir vergessen, dass das Erleben keine Grenzen kennt, weil es sich ständig verändert, weil es keine bestimmte Form besitzt, weil es alle Dinge in sich enthält? Erst mit der Gewissheit? Erst mit dem ersten Wort? Ich blicke in die Zeit vor der Zeit und die Antwort erstaunt mich selbst, denn die einzige plausible Antwort die ich finde ist wieder Hier und Jetzt. Dort wo die Unterteilung in Präsenz, vorher und nachher beginnt. Der Kreis schließt sich und ich fühle mich als wäre ich angekommen. Als wäre ich jetzt dort wo die Zeit beginnt.

Deshalb sage ich Hier und Jetzt ist auch die Zeit wo der Kolonialismus, die Armut, die Vertreibung, die Benachteiligung, wo der Krieg beginnt. Wo die Opfer Täter Umkehr möglich ist, wo immer wieder das Opfer zum Täter und der Täter zum Opfer wird.  Andererseits weilt im Hier und Jetzt auch der Duft des wahren Frühlings. Der Frühling der weder kalt noch warm ist, weder hell noch dunkel, weder trocken noch feucht, der keine bestimmte Form hat und weil er keine bestimmte Form hat, weder entsteht noch vergeht und deshalb auch nicht vom Wissen oder Nichtwissen abhängt. Wie ein Seufzen also, wie ein absichtsloses Lächeln nur, wie ein Traum?  Eher wie der Flug eines Vogels, der während er fliegt keine Spuren hinterlässt. Wie der Wind der alle Dinge gleichzeitig berührt und sich dabei auf nichts bestimmtes niederlässt. Das ist das Wesen der Zeit bevor die Zeit beginnt. Es ist grenzenlos. Es ist friedlich. Es ist frei.

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