WINTER

Am Ufer entlang,

Ein Winter, zwei Gesichter.  

Ein neuer Tag bricht an.

Die Blätter sind bereits Vergangenheit, die Bäume sind nun kahl. Der Boden ist gefroren und die Sonne hat auf der Nordhalbkugel den niedrigsten Stand über dem Horizont erreicht. Es ist Winter. Es ist die Jahreszeit der Dunkelheit, es ist die Zeit der Nacht. Es ist die Zeit der äußeren Kälte, und doch, weil alles in der Natur der Kraft des Gleichgewichts folgt, ist der Winter gleichzeitig aber auch viel mehr als das. Für das Auge verborgen und für die Sinne unbemerkt ist da auch die innere Wärme, welche die Kraft der Kälte im Äußerem ausgleicht. Eine unsichtbare Kraft die aus dem Winter auch die Jahreszeit des wahren Lichts macht.

Doch leider sehen wir im Winter meistens nur Kälte, Verlust und Tod und damit nur Unsicherheit, Sorgen und Misstrauen. Das ist der Winter der Illusion. Der Winter als ein Zeitfragment gedacht, als würden die Jahreszeiten sich nicht immerwährend kontinuierlich folgen. Schlaflose Nächte sind dann die logische Konsequenz. Nächte in den wir uns an der Hoffnung klammern der Tod möge uns nicht ereilen, während wir auf den Frühling warten. Wo Hoffnungslosigkeit ist, weilt also auch Hoffnung. Und genau das ist was sich offenbart, wenn wir sämtliche unserer Werte, Ideale, Hoffnungen und Glaubenssätze immer wieder loslassen. Wir verraten unsere Werte also nicht, im Gegenteil sogar. Wir lassen sie immer wieder gänzlich los, um sie vollständig wieder zu empfangen. Um immer wieder zu ihrer wahren Bedeutung zu gelangen, um ihren Ursprung immer wieder zu erfahren und um sie so immer wieder frisch neu zu entdecken. Immer und immer wieder. Mit anderen Worten: der Winter ist nur dann wahrlich kalt, wenn wir an einer bestimmten Vorstellung der Reinheit anhaften.

Einst fragte der ehrwürdige Ananda den ehrwürdigen Mahakashyapa: „Älterer Dhamabruder, was außer dem goldenen Kesa hat der Weltgeehrte dir noch vermacht?“ Mahakasyapa rief: „ Ananda!“ Ananda erwiderte: „Ja?“ Mahakashyapa sagte: „hol die Fahne vor dem Tor ein!“. Ananda erwachte (1). Dieser Geschichte muss hinzugefügt werden, dass Ananda ein direkter Schüler Buddhas war, der beim Lernen besonders herausragte. Er betrieb umfassende Studien und besaß ein breites und tiefes Verständnis des Dharma. Dennoch hatte Ananda bis dahin den Grund des Geistes noch nicht klären können. Er haftete noch immer an seinen eigenen Vorstellungen und Interpretationen. Ähnlich wie wenn wir an einer Vorstellung der Reinheit anhaften. Die Reinheit wird dann zur einer Norm und die Normierung zum wahren Grund für die Unfreiheit in uns selbst und in der Gesellschaft. 

Im Winter wird es besonders deutlich warum der Mensch Träume und Vertrauen braucht. Utopien halten uns aufrecht, wie eine lodernde Flamme wenn der Geist mit seinen eigenen Grenzen hadert und wir den Eindruck haben der Winter sei dieses Jahr besonders kalt und zu allem Übel lauere draußen auch noch ein heftiger Wind. Doch die Erinnerung an eine vermeintlich bessere Zeit ist nicht des Winters wahres Gesicht. Dieses Bild des Winters kommt einer Maske gleich, die von uns selbst erschaffen ist. Um dies klar und deutlich zu erkennen, bedarf es der Klärung des Geistes in der Stille. Dort wo es weder Anfang noch Ende gibt, wo es weder kalt noch warm ist, wo es weder laut noch leise ist. An dieser Stelle, an diesem Or,t zeigt sich das wahre Gesicht des Winters in aller Deutlichkeit. Und was für ein Wunder, wenn das Unsichtbare deutlich sichtbar wird. Wie zum Beispiel in dem Augenblick wenn nach der längsten Nacht des Jahres, die Tage endlich wieder anfangen länger zu werden und wir mit unseren eigenen Augen und Sinnen sehen und erkennen können, dass in uns selbst etwas ist, dem wir uns anvertrauen können, dass immer auch Grund zur Hoffnung gibt, dass Leid und Erlösung ganz beieinander liegen, und das es an uns liegt diesen Widerspruch zu lösen. Es ist Winter und der Kreis schließt sich wieder. Es ist die Jahreszeit in der das Licht beginnt wieder zurückzukehren und wir erkennen können, dass es keinen Grund gab die Hoffnung zu verlieren. Die Natur hält nie still, sie ruht höchstens nur.

 (1) Aus: Denkoroku. Die Weitergabe des Lichtes / Keizan Jokin. Frankfurt: Angkor Verlag, 2008. 

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