
Wenn du es mit den Ohren hören willst, ist es kaum zu verstehen.
Lauschst du aber mit den Augen, wirst du es begreifen – Tozan Ryokai
Denkoroku oder die Chroniken der Weitergabe des Lichtes, ein Werk für das Soto Zen von so großer Wichtigkeit wie das Shobogenzo von Meister Dogen, dokumentiert die Erleuchtungserfahrung und die Weitergabe des Dharmas von Shakyamuni Buddha bis Meister Koun Ejo. Es handelt sich also um dreiundfünfzig Geschichten, die von Keizan Zenji erzählt, die ununterbrochene Überlieferung von Meister zu Meister wiedergeben.
Jede einzelne Erzählung ist jeweils in vier Abschnitte unterteilt, die aus einen einleitenden Koan bestehen, der Hintergrundinformation über den Kontext des Koans, dem Teisho oder Dharmavortrag, wo Keizan Zenji seinen Schülern eine Orientierung gab, damit diese den Koan selbst interpretieren und einen anschließenden Vers. Besonders das Teisho ist von großer Wichtigkeit, um die Realisation der Meister der Vergangenheit zu verstehen. Der anschließende Vers stellt mit einigen wenigen Wörtern die Essenz des Koans dar, und entspricht so der Tradition des Zen, wo die Schüler ihren Meistern auf poetische Art und Weise ihr Verständnis über bestimmte Aspekte der Unterweisung darlegen.
Es folgt der zweite Teil der Geschichte über die Überlieferung des Dharmas von Tozan Ryokai:
Zu den unbelebten Wesen, die den Dharma predigen, befragte der Arbeiter Zhanfen aus Nanyang den Nationallerher Huizhong:
-Ich gestehe demütig, dass ich nichts verstehe, wenn Ihr von unbelebten Wesen sprecht, die den Dharma predigen. Ich bitte Euch, mich zu unterweisen.
Der Nationallehrer sagte:
– Wenn du mich dazu befragst, wie unbelebte Wesen den Dharma predigen, musst du zunächst das Unbelebte verstehen, dann wirst du auch meine Lehre begreifen.
Zhangfen sagte:
– Bitte erklärt mir gleich, was das Unbelebte ist, damit ein belebtes Wesen es verstehen kann.
Der Nationallehrer sagte:
– Genau jetzt ist in jedem, in dem keinerlei Gedanken an Gewöhnliches und Heiliges entstehen oder Bergen, ein feinsinniges Bewusstsein, das nicht von Sein oder Nicht-Sein abhängt, ein deutliches Gewahrsein ohne jegliches Anhaften. Darum sagte Patriarch Huineng: “Die sechs Sinne, die die äußeren Objekte unterscheiden, sind nicht dieses Bewusstsein.”
So sprach Nanyang Huizhong über das Predigen des Dharma durch Unbelebte. Er sagte: “In jedem, in dem keinerlei Gedanken an Gewöhnliches und Heiliges entstehen oder vergehen, ist ein feinsinniges Bewusstsein, das nicht von Sein oder Nicht-Sein abhängt, ein deutliches Gewahrsein ohne jegliches Anhaften.“ Gewöhnlich denken Menschen, das Unbelebte müssten Zäune, Mauern, Ziegeln, Steine, Lampen und Säulen sein. Doch das ist es nicht, was der Nationallehrer uns sagt. Die Ansichten von gewöhnlichen und heiligen Menschen werden nicht unterschieden, ein Anhaften an Täuschung und Erwachen taucht nicht auf. Noch weniger gibt es die Intrigen leidenschaftlicher Gedanken und Wertungen und auch nicht die üblichen Bewegungen und Formen von Leben und Tod. Es ist ein feinsinniges Bewusstsein, das deutlich gewahr ist und nicht dem Anhaften des leidenschaftlichen Bewusstseins gleicht. Auch Tozan sagte, auf diese Weise müsse man es verstehen, um in Einklang mit dieser Wirklichkeit zu sein.
Wenn ihr wisst dass ihr stets alleine geht, wohin ihr euch auch wendet, dann gibt es keinen Augenblick mehr, in dem nicht alle Dinge im Einklang mit der Wirklichkeit sind. Die Alterwürdigen sagten: „Außerhalb der Wirklichkeit gibt es kein Wissen, das durch die Wirklichkeit beglaubigt würde, und es gibt keine Wirklichkeit außerhalb des Wissens, die durch Wissen kultiviert würde. Wirklichkeit ist unwandelbares, klares und beständiges Wissen.“ Darum heißt es, es handele sich um vollständig klares Wissen, das nicht mit dem Denken verknüpft ist. Deutliches Gewahrsein ist nicht Anhaften. Guishan sagte: „Ich kann es dir nicht mit Worten sagen.“ Er sagte auch: „Wenn belebte Wesen es hören könnten, wären sie nicht länger belebte Wesen.“ Da er die Anleitungen verschiedener Meister empfing und das wahre Unbelebte verstand, konnte Tozan als unser alter Patriarch ausgiebig die Soto-Tradition verbreiten.
Durch genaue Betrachtung werdet ihr dieses feinsinnigen Bewusstseins deutlich gewahr. Man nennt es „unbelebt“, weil dort keinen Tönen und Formen nachgerannt wird und keine Fesselung an ein leidenschaftliches Bewusstsein herrscht. Dieses Prinzip muss sorgsam gepredigt werden. Wenn ihr also vom Predigen des Unbelebten hört, denkt nicht, dass es auf Zäune und Mauern verweist. Wenn ihr nicht an Gefühlen und Gedanken hängt und eure Wahrnehmung nicht zerstreut ist, dann ist das feinsinnige Bewusstsein klar, unbehindert und strahlend. Wenn ihr diesen Bereich zu erfassen sucht, ist dies nicht möglich da er nicht durch Form beschränkt ist, existiert er nicht. Doch wenn ihr ihn loswerden wollt, könnt ihr ihn nicht verlassen. Da er euch seit Menschengedenken begleitet hat, ist er nicht nicht-existent. Dennoch ist er kein Ergebnis des gewöhnlichen Bewusstseins, Wissens oder Denkens; noch weniger ist er mit den vier Elementen oder fünf Skandhas verbunden.
Hongzhi sagte: „Es gibt ein Wissen jenseits leidenschaftlichen Denkens und Unterscheidens, und einen Körper, der nicht aus den vier Elementen und fünf Skandhas besteht.“ Dies ist das feinsinnige Bewusstsein. Stets klar zu predigen bedeutet, dass es immer manifest ist. Dies ist wahres Predigen. Es lässt einen die Augenbrauen heben und mit den Augen blinzeln, laufen, stehen, sitzen, liegen, verwirrt sein, in Schwierigkeiten geraten, hier sterben und dort geboren werden, essen, wenn man hungrig ist, und schlafen wenn man müde ist. All dies ist Predigen. Sprechen, Arbeiten, Bewegung und Nicht-Bewegung sind ebenfalls Predigen. Es geschieht nicht nur mit Worten oder wortlos. Es ist das eine, das auf wunderbare Weise erscheint, das leuchtend und niemals dunkel ist. Da es in allem offenbar ist, selbst im Klaffen einer Muschel und dem Geräusch von Erdwürmern, predigt es deutlich ohne Unterlass. Wenn ihr es vollständig erfasst, werdet ihr eines Tages wie unser berühmter Patriarch Tozan anderen ein Vorbild sein.
Vers
Dies äußerst feinsinnige Bewusstsein ist kein gefühlsmäßiges Anhaften.
Es lässt das Eine stets umfassend predigen.
Quelle: Denkoroku. Die Weitergabe des Lichtes / Keizan Jokin. Frankfurt, Angkor Verlag, 2008
