SHINJI SHOBOGENZO – ACHTUNDZWANZIG


In einen verdorrten Baum singt ein Drache – Kyogen

Eines Tages fragte ein Mönch Meister Chikan aus dem Kyogen Tempel:
– Was ist die Wahrheit?
Meister Kyogen erwiderte:
– In einem verdorrten Baum singt ein Drache.
Der Mönch sagte:
– Was ist ein Mensch, der die Wahrheit erfährt?
Meister Kyogen antwortete:
– Es sind die Augen in einem Totenschädel.
Später fragte ein Mönch Meister Sekiso:
– Was ist das Singen des Drachen in einem verdorrten Baum?
Meister Sekiso sagte:
– Da ist noch Freude.
Der Mönch fragte:
– Was sind die Augen in einem Totenschädel?
Meister Sekiso sagte:
– Da ist noch Freude.
Der Mönch fragte:
– Was sind die Augen in einem Totonschädel?
Meister Sekiso sagte:
– Dort gibt es noch Bewusstsein.
Bei einer anderen Gelegenheit fragte ein Mönch Meister Sozan:
– Was ist das Singen des Drachen in einem verdorrten Baum?
Meister Sozan erwiderte:
– Das Herzblut hört niemals auf zu fließen.
Der Mönch fragte:
– Was sind die Augen in einem Totenschädel?
Meister Sozan sagte:
– Die Augen trocken niemals aus.
Der Mönch sagte:
– Ich frage mich, ob es noch jemanden gibt, der das Singen des Drachens hören kann?
Der Mönch fragte:
– Weißt du, was der Gesang bedeutet, wenn ein Drache singt?
Meister Sozan sagte:
– Ich weiß es auch nicht, was der Gesang bedeutet: doch wer ihn hört, der stirbt.

Kommentar

Im alten China gebrauchten die Leute den Begriff ryugin, „das Singen des Drachen“, als ein Symbol für etwas Mystisches in der Natur, im Universum. Der Ausdruck „koboku ryugin, „das Singen des Drachen in einem verdorrten Baum“, beschwört das Bild einer einsamen und öden Landschaft mit verdorrten Bäumen herauf, in der wir das Gefühl haben, etwas hören zu können, das aber etwas anderes als ein Ton ist. Diese Metapher wurde im buddhistischen Testen aufgegriffen, wobei das Singen des Drachen nicht für einen Ton steht, sondern für etwas, das nicht allein mit den Ohren zu hören ist: die Stille, die Natur, das Universum oder die Wirklichkeit.
In diesem Koan wollte der Mönch wissen, was die Wahrheit ist. Meister Kyogen nahm die alte chineische Metapher des Drachen Singens auf und sagte, die Wahrheit sei etwas, das wir zwar erfahren aber eben nicht hören, nicht ergreifen können. Doch der Mönch wollte eine konkretere Erläuterung haben. Wie sit ein Mensch, der die Wahrheit verwirklicht hat? Bei seiner Antwort benutzte der Meister eine andere alte Metapher. Bei jemandem der die Wahrheit verwirklicht hat, ist etwas zu spüren, ähnlich wie uns die Augenhöhlen, wenn wir auf einen Totenkopf blicken, eine subtile Andeutung von Leben vermitteln.
Später bat ein Mönch Meister Sekiso Keisho darum, den Sinn dieser beiden metaphorischen Wendungen zu klären. Meister Sekiso führte aus, das Singen des Drachen lasse auf Freude schließen und die Augen in einm Totenkopf auf ein Bewusstsein. Die Wahrheit sei subtil und unmöglich allein mit dem Verstand zu erfassen.
Bei einer anderen Gelegenheit bat ein Mönch Meister Sozan Honjaku, den Sinn des Singesn des Drachens in einem verdorrten Baum zu erläutern. Meister Sozan legte dar, dies bedeute, das Herzblut – die wahre Lehre Gautama Buddhas – höre niemals auf zu fließen. Dann bat der Mönch noch, der Meister möge etwas über die Augen in einem Totenkopf sagen. Meister Sozan erklärte diese Metapher stehe dafür, dass die Wahrheit immer bei uns sei – sie verschwinde nie.
Der Mönch wechselte dann zu einer praktischen Frage: Kann irgendjemand das Singen des Drachens hören? Der Meister erwiderte, dass wir alle es hören könnten, überall liege die Wahrheit offen zutage. Was nun sagt dies aus? Das Gemeinte liegt außerhalb der Reichweite unseres analystischen Denkens. Und wenn wir den Klang der Wahrheit hören, befreien wir uns von unserer verstandesmäßigen Sichtweise und gehen in die Wirklichkeit ein. Sogar die Klänge der Natur werden dann zur Lehre Gautama Buddhas.

Aus: Die Schatzkammer der wahren buddhistischen Weisheit – Dogen Zenji´s Sammlung von 301 Koan – Geschichten erläutert von einem Meister der Gegenwart. 2005, O.W. Barth Verlag.

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